Hast Du etwas Zeit?

Hast Du etwas Zeit?

11.April 2017

Mein Nachbar, der mir gerade einen schönen heißen Tee gemacht hat, druckst ein wenig herum als er mir diese Frage stellt. Ich will Dir nicht Deine kostbare Zeit stehlen, und es ist mir sehr unangenehm zu fragen. Er fragt nun schon zum 3. Mal hintereinander ob es ok ist, wenn ich den Handwerkern die Tür öffne während er bei der Arbeit ist. Und ich wiederhole nun auch schon zum 3. Mal, dass es mir nichts ausmacht, ganz im Gegenteil.
Dieses Gespräch geht mir nicht aus dem Kopf. Ich denke darüber nach.

Zeit, was ist das eigentlich? 

Mein Nachbar, dessen Tee ich gerade genieße, geht morgens um 7 aus dem Haus und kommt abends um 7 wieder nach Hause. Hmmm, das ist eindeutig zu viel. Er hat zu nichts anderem mehr Zeit als für Arbeit und Fortbildung und vielleicht noch zum Kochen.

Ich bin nach 40 Jahren Arbeit nun Pensionär, bei mir ist es andersrum. Ich arbeite wenig und habe Zeit. Zeit im Überfluss. Zeit, die ich mir einteilen kann. Zeit, die ich genießen kann. Zeit, die ich verschenken kann. Zeit, die ich einem lieben Menschen, meiner Frau, einem netten Nachbarn oder auch mir selbst schenken kann. Welch ein Luxus. Zeit zu haben in der heutigen Zeit. Alle sind im Stress, alle sind in Eile, niemand hat Zeit und schon gar nicht die Muße, darüber nachzudenken.

Ich denke darüber nach und genieße genau jetzt – in diesem Augenblick – meine Zeit. Nichts ist wichtig, alles ist gut und die Zeit, sie fließt einfach.

Nun, da ich in der Lage bin, Zeit zu verschenken, was passiert da eigentlich? Geschenkte Zeit ist schwieriger anzunehmen als eine Flasche Wein. Es ist unangenehm und macht Schwierigkeiten. Man kann dieses Geschenk nicht wieder gut machen – denkt man…

Muss man doch gar nicht, eine geschenkte Flasche Wein macht man doch auch nicht „wieder gut“, oder?

Wenn ich meine Zeit verschenke, mache ich das, weil ich mich über die Freude des anderen freue, weil ich ein Dankeschön in Form eines Lächelns erhalte, weil ich zum Tee eingeladen werde und weil ich den Beschenkten mag. Und ein Stück weit mache ich das auch einfach für mich. Ich bekomme dafür ein wenig Anerkennung, ein wenig Gefühl von „gebraucht werden“, ein bisschen „Mensch Alter, gut, dass ich Dich als Nachbarn habe“. Das ist der Lohn des Rentners, der Zeit zu verschenken hat. Das macht mich glücklich, so einfach ist das.

Und wenn ich dann mal keine Zeit habe, dann bin ich doch alt und erwachsen genug das auch zu sagen. Schließlich haben Rentner doch nie Zeit…