Ausgebremst
Ausgebremst…
22. März 2020
Booohhh geht der los, der Anzug ist schon ein Hammer und es fährt sich großartig in der „Kiste“.
Ich biege auf die Autobahn gebe Gas und beschleunige.
- 100
- 150
- 180
- 200
Der Tacho geht noch höher, und ich erreiche 220 km/h. Mein Herz klopft, und ich fliege an den Autos rechts von mir vorbei. Die Überholspur ist meine.
Geil.
Scheiße, was macht der da?
Der fährt raus, der fährt doch tatsächlich raus und kommt ganz langsam und gemütlich auf die Überholspur. Ist der nicht ganz dicht?
Im Bruchteil einer Sekunde schießen mir Fragen durch den Kopf:
Links vorbei, rechts vorbei, mitten rein, auf der Standspur vorbei… Was tue ich?
Ich entscheide mich für eine Vollbremsung. Die Beschleunigungskräfte ziehen mich nach vorn, der Gurt ist unter Volllast, mein Herz hämmert. Bremsen, nur noch Bremsen.
Und da ich mich dafür entschieden habe, muss ich da durch…
***
Bremsen auf der Überholspur, so kommt es mir gerade vor. Die Situation ist ähnlich. Die Menschheit hat Gas gegeben! In den letzten vielleicht 200 Jahren haben wir Gas gegeben, sind auf die Überholspur gewechselt und haben das Tempo exzessiv erhöht. Haben uns gefreut über Wirtschaftswachstum, die technischen Errungenschaften, über schnelle Autos, Handys und ich weiß nicht was.
Diejenigen, die wir überholt haben sind die Tiere, die Natur, das Klima, die Rohstoffe, die Erde – und teilweise uns selbst.
Wir nehmen in Kauf, dass unsere Erde – die einzige, die wir haben – auf der wir leben und die es gut mit uns meint, die wie eine Mutter ist, langsam aber sicher von uns selbst zerstört wird.
Wir nehmen in Kauf, dass unsere Kinder in eine Welt auf der Überholspur geboren werden.
Wir nehmen in Kauf, dass alles, was dieses Tempo nicht mithalten, kann kaputt geht.
Völlig wurscht, ob Menschen Burnouts bekommen, ob die Erde einen Kollaps bekommt.
Völlig wurscht sogar, ob es uns selbst dabei noch gut geht, oder wir in den Abgrund laufen wie die Lemminge.
Und nun kommt da etwas auf die Überholspur. Aber nicht langsam, sondern plötzlich und gnadenlos.
Ein Virus zwingt uns zu einer Vollbremsung. Ein winziges Teilchen, von denen wir schon so viele überholt haben.
Die Beschleunigungskräfte reißen uns noch nach vorn. Aber plötzlich reihen wir uns wieder ein in die normale, von der Natur vorgegebenen Geschwindigkeit.
Nach nur wenigen Wochen ohne Menschen kommt die Natur zurück in die Städte. Kommen Menschen zur Ruhe, kommt die Welt zum Durchatmen.
Der Tsunami kommt erst noch. Im Moment schauen wir gerade noch auf die erste Welle. Was wird danach kommen? Wir wissen es nicht, und keiner kann es vorhersagen.
Aber jetzt haben wir Zeit zum Nachdenken, zum Überdenken, zum Verändern, zu Verbessern.
Jetzt brauchen wir Philosophen und keine Idioten, jetzt brauchen wir keinen blinden Aktionismus, sondern neue Konzepte und klaren Menschenverstand.
Jetzt haben wir die Chance. Wir sollten sie nutzen.
Claus Schierenbeck
22.03.2020