Hildegard & Ernst Kleinert
Klappe 27 die Erste.
Mein Gegenüber, ein sehr netter Schauspieler, gibt mir den Schlüssel für ein Fahrzeug, welches ich gleich auch noch fahren darf. Bei solch einem Auto muss man schon sagen „darf“. Es ist ein Oldtimer – und für mich ein ganz besonderer Oldtimer. Da ich mittlerweile auch fast schon zu den Oldtimern gehöre, habe ich sozusagen miterlebt, wie die ersten dieser Fahrzeuge vom Band gerollt sind.
Ich stehe an der Tür eines Karmann Ghia. Ich bin Komparse bei einer Fernsehserie und spiele einen Autokäufer.
Ich habe den Schlüssel in der Hand, setze mich hinein in den Karmann. Zündschlüssel drehen und losfahren. Wahnsinn. Ich habe auf einem VW Käfer das Autofahren gelernt, die Schaltung ist kein Problem.
Unglaubliche Erinnerungsfragmente überkommen mich.
Es ist 1958 und ich stehe an der Hand meiner Eltern an der Überseebrücke in Hamburg. Dort läuft ein Passagierschiff ein. Eins von den schnittigen Dampfschiffen, wie man sie von früher kennt. Für mich kleinen Knirps mit meinen 4 Jahren ein riesiges Abenteuer, hier auf dem Ponton der Überseebrücke zu stehen. Das Schiff ist riesengroß und meine Augen wohl noch größer. Das Schiff kommt aus Übersee, aus Südamerika.
Ganz viele Menschen stehen an Bord des Schiffs und winken den unten Stehenden, ebenfalls unglaublich vielen Menschen zu.
Dann plötzlich wird das Gewusel unüberschaubar, und die Menschen vom Deck schieben sich die Gangway herunter. Ich sehe nur noch Beine und das Schiff. Die Leute begrüßen sich, liegen sich in den Armen, küssen sich, lachen und freuen sich. Es ist ein immenser Haufen guter Energie, und der Ponton schwankt unter der Last.
Irgendwo dazwischen stehen wir und warten. Ich hatte schon wieder vergessen, dass wir ja einen Grund hatten, hierher zu kommen und das Ganze zu erleben.
Die Menge lichtet sich und es werden immer weniger Menschen. Da stehen noch zwei, für mich sehr exotisch aussehende Personen – ein Mann mit schwarzen, glatten, nach hinten gekämmten Haaren und einem Schnauzer und eine Frau mit ebenfalls dunklen Haaren. Beide tiefbraun gebrannt. Mit einem riesigen Überseekoffer.
Mein Onkel Ernst und meine Tante Hildegard kamen aus Montevideo, der Hauptstadt von Uruguay. Sie haben dort 4 oder 5 Jahre versucht zu leben und dann doch gemerkt, dass es zu schwierig ist, dort Fuß zu fassen.
Jedenfalls waren sie wieder da.
Im Laufe der nächsten Jahre entwickelte sich ein tolles Verhältnis zu den beiden, und sie waren wirklich meine Lieblingstante und mein Lieblingsonkel. Es war schön, bei Ihnen zu sein, Geschichten zu hören und Bilder anzuschauen von ihren Reisen durch Südamerika. Die Beiden wirkten immer, als wären sie frei von allen Zwängen. Sie waren immer locker, fröhlich und liebenswürdig.
Sie hatten sehr ungewöhnliche Bilder vom Zuckerhut aus Perlmutt. Die schillerten in allen Farben und ich fand das toll. Überhaupt – Montevideo, Rio de Janeiro, Sao Paulo usw. – die Namen dieser Orte entfachten in mir ein unglaubliches Fernweh.
Und die beiden hatten – na, was wohl – einen Karmann Ghia in Perlmutt-weiß. Auch dieser schillerte ganz leicht bunt. Wenn sie bei uns zu Besuch waren, bin ich bei Ihrer Ankunft und beim Abschied immer auf die Straße gelaufen, weil ich mich so auf sie gefreut hatte und weil ich das Auto sehen wollte (immerhin wohnten wir in der vierten Etage). Was für Zeiten…
Es ist schon unglaublich, was ein Stück Blech für einen Erinnerungsschwall auslösen kann.
Ich kann mich sehr gut erinnern, dass bei den Bildern der beiden auch Fotos von Flugzeugen waren. Flugzeuge haben mich in meinem späteren Leben ganze 38 Jahre begleitet, da ich bei der Lufthansa gearbeitet habe. Vielleicht angetrieben durch die Geschichten der beiden und den exotischen Städtenamen, die dieses Fernweh ausgelöst hatten.
Jedenfalls ist mir ein Bild sehr in Erinnerung geblieben. Es war eine 707 der Lufthansa bei der Landung in Rio de Janeiro und man sah im Hintergrund den Zuckerhut. Sowohl das Flugzeug und auch der Zuckerhut hatten es mir angetan. Ich sehe das Bild immer noch vor mir. Beeindruckend!
Den Zuckerhut habe ich irgendwann später auch besucht. Leider lebten die beiden da schon nicht mehr, sonst hätte ich ihnen sicher davon berichtet und vielleicht ein schönes Perlmuttbild mitgebracht.
Die alte 707 mit den schön geschwungenen Triebwerksauslässen habe ich immer am Flughafen in Hamburg gesehen. Sie war für Azubis zur Ausbildung und für mich immer der Teil meines Berufs und meines Arbeitslebens bei der Lufthansa.
Leider ist gerade jetzt auch eben dieses, das letzte Flugzeug seiner Art verschrottet worden. Wie viele Erinnerungen mögen an der alten 707 mit der Bezeichnung D – ABOD der Lufthansa gehangen haben, wenn ein kleiner Karmann Ghia schon solche Spuren hinterlässt?
Nun ja, der Karmann ist geblieben und ich danke dem Regieassistenten dafür, dass er mich ausgesucht hat, ihn zu fahren.
Und natürlich für die schönen Erinnerungen an meine Lieblingstante Hildegard und meinen Lieblingsonkel Ernst.