DIe Unsichtbaren

                                                                                                           02.11.2021 Winsen Luhe

Die Unsichtbaren                                                                             

Ab Februar im Kino

Kurt K. und der Säurefassmörder
Meine Brille ist riesig, mein Hemd zu weit und die Hose schlackert mir um die Beine. 
Ich tauche ein – Zeit ist relativ.
Der Bungalow ist stehengeblieben. Stehengeblieben in der relativen Zeit. 
Es ist seltsam, fast unheimlich. 
Die Brille ist abgetönt und macht alles noch dunkler. 
„Schön, dass du da bist Claus.“
Bin ich Claus? Das kann nicht sein, ich bin Kurt – oder doch nicht?

Es passiert etwas mit mir, nimmt mich mit, umarmt mich. Mit dem Kostüm und der Umgebung bin ich anders, zurückversetzt und doch nicht zurückversetzt. Es ist das Jahr 1991, September. Also ziemlich genau 30 Jahre her. Damals war ich 37 und Kurt ungefähr so alt wie ich heute.

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Kay von der Casting-Agentur „Kiezkomparsen“ ruft mich an und sagt mir, dass er ein Casting-Video braucht. „Ich sitze im Zug und sage, dass ich gern ein Video mache, wenn ich zuhause angekommen bin. Von Köln nach Hamburg sind es doch nur 4 Stunden.“
„Nee, wir brauchen das jetzt gleich. Muss ca. ‘ne Minute lang sein.“
Ach du Schande, ich kann doch hier kein Video über mich drehen. Der Zug ist rappelvoll.
Ich bin jetzt ziemlich aufgeregt und weiß mir fast nicht zu helfen. Mein Blutdruck steigt. 
Ich mach das jetzt einfach auf der Zugtoilette, egal. Da klopft schon einer an die Klotür und ich beeile mich. Ist das `n Stress.

Erledigt, losgeschickt und kurze Zeit später:
Absage. Mist, dafür die ganze Mühe.

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„Hallo Claus, ich bin Naemi – falls du Zeit hättest, würden wir dich doch gern buchen.“
Nun doch! Ich bin gebucht und freue mich riesig.

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Fitting! 

„Moin Claus, ich bin Matthias. Ich bin der Regisseur der Doku. Ich freue mich, dass Du dabei bist.“ Matthias ist mir gleich sympathisch – ich denke, dass es umgekehrt genauso ist. 

Wir befinden uns in einer Halle voller Klamotten aus allen Jahrzehnten. Ist ja Wahnsinn, soviel Klamotten aus den letzten Jahrzehnten habe ich noch nie auf einem Haufen gesehen.

Matthias erklärt mir, worum es in der Doku geht und ich hänge an seinen Lippen (während ich verschiedene Outfits probiere). Matthias‘ Stiefmutter Marianne Atzeroth Freier war maßgeblich an der Aufklärung eines unglaublich gruseligen Kriminalfalles beteiligt. Es geht um den „Säurefassmörder“ in Hamburg.

Da er die Geschichte kennt wie kaum ein anderer, hat er seit langem das Bedürfnis, dieses in eine Dokumentation zu packen.

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Kurt K.! Ich heiße Kurt K. . Meine Hose schlackert mir um die Beine, meine Brille ist zu groß, und meine erste Frau Hildegard ist verschwunden. Meine jetzige Lebensgefährtin Christa wurde entführt! Der Entführer verlangt 300.000 D-Mark. Es geht mir schlecht. 

Im Bungalow ist es 1991, Zeit ist hier wirklich relativ. In meinem Kostüm und der Umgebung fühle ich mich Kurt sehr nahe. Die ganze Geschichte geht mich sehr an. Ich habe gestern schon darüber gelesen und es gruselt mich. 

Kamera läuft. Und bitte…

Der Startschuss ist gefallen, ab jetzt bin ich Kurt – nur noch in den Pausen darf ich Claus sein. 

So muss es gewesen sein, als Kurt schmerzgepeinigt die Stimme des Entführers hört. Ich versinke im Kassettenrecorder mit der Stimme des Entführers und versuche mich zu erinnern. Woher kenne ich die Stimme? Ich spiele eine andere Person. Der Mann hat das wirklich erlebt. Ich bin gefesselt und gebannt von diesem Dreh und der ganzen Geschichte. Ich bin Kurt.

Ich höre die Stimme wieder und wieder, und die Kamera läuft.

Eine Einstellung nach der anderen, ein Kostüm nach dem anderen. Lachen verboten, ich bin Kurt! Mir geht’s nicht gut…

Viele Sachen gehen mir durch den Kopf. Mache ich alles richtig, spiele ich so, dass man es mir abnimmt? Wie muss es Kurt gegangen sein? Kurt, seine Frau Hildegard und Christa, seine Lebensgefährtin, tun mir unendlich leid. Es ist einfach nicht zu fassen, was damals passiert ist.

Meine Kollegen und ich kommen langsam in einen guten Flow. Wir spielen die Szenen mit viel Freude und gehen darin auf.

So einen Dreh habe ich bisher noch nicht gehabt. Ich befinde mich im Neuland und fange an zu verstehen, was es heißt jemanden zu spielen und nicht nur als Komparse in der hinteren Reihe zu stehen. Zu dem zu werden, den man verkörpert, zu verschmelzen mit dieser Person ist so verdammt schwer. Ob ich das jemals hinkommen könnte? Das braucht verdammt lange und viel mehr Talent. Also: Nein, da werde ich ganz bestimmt nicht mehr hinkommen.

Der Drehtag geht zu Ende, und ich schäle mich langsam aus der Haut von Kurt. 

Puh, meine eigenen Klamotten, raus aus dem Bungalow und raus aus der alten Zeit, raus an die frische Luft.

Es war toll. Es war ein echtes Erlebnis. Ich freue mich sehr, dass ich dabei sein durfte.

Ich war nur einen Tag ein anderer Mensch und das hat mich schon schwer beeindruckt. Wie muss es bloß Schauspielern gehen, die sich für Wochen, oder gar Monate in jemand anderen verwandeln, und jeden Tag wieder aufgehen in ihren Rollen. Manchmal so etwas zu machen ist toll, aber immer wieder? Nein, ich glaube das könnte ich nicht.

Ein großartiges Erlebnis, vielen Dank dafür.

                                                                                                           Hamburg, 03.10.2023

Jetzt, 2 Jahre nach dem Dreh ist der Film fertig und nach der Premiere und läuft er jetzt im Kino.

Und das Beste kommt zum Schluss: Ich durfte doch tatsächlich mit auf den roten Teppich, Wahnsinn. 

Hier ein paar links über die ganze furchtbare Geschichte:

NDR: Geschichte des Säurefassmörders

Rejell Film: Vorschau Film

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